Was ist Leben?

Zum Sommer gehört es ja, dass man etwas liest, was man sonst nicht lesen würde.

Bei mir war es unter anderem der Klassiker aus dem Jahr 1951 “Was ist Leben?”, indem sich Erwin Schrödinger auf ein anderes Sachgebiet als das seine eingelassen hat: die Biologie.

Schrödinger als einer der ganz großen Österreicher, 1933 mit dem Nobelpreis für Physik geehrt, zeigt er wie früher wesentlich üblicher als heutzutage, schon im Vorwort Bescheidenheit. 

Er entschuldigt sich für die Dreistigkeit, in ein anderes Fachgebiet vorzudringen, aber er kann nicht anders. 
 

Weil es keinen anderen Weg gibt, zu einer universalen Betrachtungsweise, zu einer ganzheitlichen Sichtweise zu kommen. Manche müssen die Zusammenschau wagen, auch wenn “sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen.”

Erwin Schrödinger auf der 1000 Schilling Banknote
Erwin Schrödinger auf der 1000 Schilling Banknote, viele Boomer kennen ihn nur so.

Gleich zu Beginn ruft er einen schönen Vergleich von Lord Kelvin in Erinnerung, um zu veranschaulichen, wie klein Atome sind: 

“Nehmen wir einmal an, dass man alle in einem Glas Wasser enthaltenen Moleküle mit einem Kennzeichen versehen könnte. Dann leere man das Glas in den Ozean aus und rühre diesen um und um, bis die gekennzeichneten Moleküle gleichmäßig auf alle sieben Weltmeere verteilt sind. Und wenn man dann aus irgendeinem der Meere ein Glas Wasser schöpfte, dann würde man darin immer noch ungefähr hundert gekennzeichnete Moleküle finden.”

Warum müssen im Vergleich zu Atomen unsere Körper so groß sein?

Auf Grund der Brownschen Bewegung der Teilchen wäre es undenkbar, dass wir so empfindliche Organismen wären, dass ein einzelnes Atom einen Eindruck erwecken könnte. 

“Ein so beschaffener Organismus wäre ganz sicher nicht fähig, die Art geordneter Gedanken zu entwickeln, welche über eine lange Reihe von Vorstufen fortschreitend schließlich unter vielen anderen Begriffen den Begriff des Atomes schafft.”

Brownsche Bewegung
Brownsche Bewegung (aus Spektrum der Wissenschaft, Lexikon der Physik)

Nur wenn sich durch das Zusammenspiel einer großen Anzahl von Atomen diese mikroskopische Unregelmäßigkeit statistisch wegmittelt, ist Ordnung und Leben möglich.

Leben ist ein statistisches Phänomen.

Schrödinger greift auch das $\sqrt{n}$ Gesetz auf, das in der schließenden Statistik bei der Planung von Stichprobengrößen eine Rolle spielt. 

Er erinnert daran, dass auch viele andere statistische Erkenntnisse auf mechanischen oder physikalischen Grundlagen beruhen. Die Bezeichnung “Dichtefunktion”, “Moment erster und zweiter Ordnung” u.v.a. weisen darauf hin. Die Entwicklungen von Gauß aus der Fehlerrechnung seiner Landvermessung schließlich auch.

Würde man behaupten, so argumentiert er, dass in einem Volumen n Gasmoleküle sind, dann läge man mit $\sqrt{n}$ Prozent daneben. Der relative Fehler liegt stets bei $1/\sqrt{n}$.

Ob es ich um eine Umfrage vor einer politischen Wahl oder die Anzahl der Gasmoleküle in einem Behälter handelt - der Zufall macht keinen Unterschied.

Was ist Leben?
Was ist Leben? (Piper, 18th ed., 1989)

Im weiteren Verlauf geht er auf die Grundlagen der Genetik ein, das Wesen des “Crossing - Over” und Mutationen. 

Hier taucht wiederum ein statistischer Effekt auf: Schrödinger beschreibt die Aussaat einer Gruppe von Gersten mit längeren Grannen (die borstenförmigen Fortsätze auf der Ähre). Darwin hätte sich hier in weiterer Folge eine Ernte mit höhere mittlerer Grannenlänge erwartet. 

Das ist aber nicht der Fall, weil die höhere Grannenlänge nicht durch die Struktur der Erbmasse bedingt ist, sondern von zufälliger Natur. 

Der neue Mittelwert der Grannen ist damit wiederum kleiner und in etwa so, wie der ursprüngliche Mittelwert war. Das ist nichts anderes als die in der Statistik bekannte “Regression zum Mittel”.

Erst wenn die Abweichung in der Größe unvermittelt und sprunghaft erfolgt, handelt es sich um einen Mutation und kann vererbt werden. Natürlich erinnert das Schrödinger an die Sprünge zwischen Energiestufen in der Quantenmechanik. 

Im Kapitel darüber, dem Fachgebiet Schrödingers, hadert er damit, zu oberflächlich zu sein. In einer Fußnote stellt er fest:

“Ich folge der gewöhnlich in populären Darstellungen gebotenen Version, welche für unsere Absicht genügt. Ich habe aber das schlechte Gewissen eines Mannes, der einen bequemen Irrtum verewigt. In Wahrheit ist die Sache sehr viel komplizierter, …”

Erwin Schrödinger
Erwin Schrödinger 1933, koloriert (bbvaopenmind.com)

Als Lehrer kennt man das Gefühl: Verständlichkeit und (exakte) Wahrheit spielen nicht immer in einer Liga. Häufig muss man sich zwischen beiden unter krampfartigen Beschwerden entscheiden.

Am Ende kommt wieder die Statistik ins Spiel, und zwar im Begriff der “Entropie” (dem Grad der Unordnung), was ihm dem Rätsel des Lebens noch ein Stück näher bringt.

“Ein Organismus erscheint deswegen so rätselhaft, weil er sich dem raschen Verfall in einen unbewegten “Gleichgewichtszustand” entzieht,….” Was dazu geführt hat, zu glauben, dass im Organismus eine “unkörperliche, übernatürliche Kraft wirksam sei (vis viva, Entelechie).”

Das, wovon sich ein Organismus ernährt, ist negative Entropie. Der Stoffwechsel an sich ist es nicht - jedes Atom ist schließlich gleich viel wert wie ein anderes.

Dem statistischen Begriff von Ordnung und Unordnung hat ein anderer großer Österreicher große Dienste erwiesen. Er hat die Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kombinatorik mit der Physik auf immer verbunden und so der Suche nach dem Wesen des Lebens dort ein Zeichen gesetzt, wo der Tod die Hauptrolle spielt: Auf seinem Grabstein am Wiener Zentralfriedhof.

Ludwig Boltzmann
Grab von Ludwig Boltzmann (https://de.wikipedia.org/wiki)